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Der Fassadenkletterer

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„Sie sind ein Fassadenkletterer.“ Er schaute verdutzt – natürlich. Woher sollte er auch wissen, was gemeint ist. Solchen Einstieg in eine Therapiesitzung hatte er bisher noch nicht. Da es nicht wie ein Vorwurf klang und sie auch recht entspannt wirkten, entgegnete er ihnen, dass er ja schon vieles sei, aber das noch nicht und lachte. Er war sich nicht sicher, wen er vor sich hatte.


Im Moment konnte es C. genauso gut wie D. sein. Aber er bemerkte, dass sein Gegenüber Blickkontakt hielt, und das konnte C. nicht so andauernd, wie D.. Oder hatte er jemand anderen vor sich? Er erinnerte sich, dass D. ihn duzte, also konnte sie es nicht sein. In seinem Scherz der letzten Therapiesitzung, dass ein automatisch wechselndes Namensschild nicht schlecht wäre, lag in der Tat mehr Wunsch, als Scherz. Gut, er schweifte mit seinen Gedanken ab. „Wer spricht denn mit mir?“

Sie schaute einen Moment entrüstet, besann sich dann aber, dass er ja nicht hellsehen könne und nicht alltäglich Umgang mit ihnen hatte, wie O. Ja, O. erkennt schnell, wer gerade sein gegenüber ist. Das würden sie aber keinesfalls von anderen erwarten. Wobei es insgeheim schön wäre, wenn auch er von selbst wüsste, wer da ist. Sie müssten an ihrer Erwartungshaltung noch arbeiten, dachte sie kurz bei sich.

„Ich bin D1. Ich vergesse manchmal mich explizit zu erkennen zu geben.“

‚Explizit‘ – aha, dachte er bei sich. Da spricht eine Businessfrau. Er erinnerte sich daran, dass in der Übersicht der Anteile vermerkt war, dass D1 einen Teil des Berufsalltags übernimmt.
„Hallo D1. Verraten Sie mir auch, warum ich ein Fassadenkletterer bin?“

„Natürlich.“

Wollte sie ihn auf die Folter spannen? Ihre Pause nach der Antwort wirkte jedenfalls so.
„Sie sind sehr geduldig. Aber Sie sind auch genauso fordernd. Nein, beständig einladend. Das schätze ich sehr. Dennoch sind Sie zurückhaltend. Ich denke, dass es gerade das ist, was uns dazu veranlasst, in der Fassade einige Vorsprünge einzubauen, damit Sie hin und wieder einen Blick hinter oder über die Mauer werfen können. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie nicht wissen, worauf ich hinaus möchte. Man sieht es Ihnen übrigens auch gerade an.“

Natürlich ist er neugierig und er fühlte sich ein wenig ertappt. Aber noch immer wusste er nicht, worauf sie hinaus wollte. Mit ihrer Pause, nach der Aussage, steigerte sich die Neugier sogar noch.

„In den letzten Monaten hat sich vieles in uns verändert. Wir sind aufeinander zugegangen, haben Kompromisse geschlossen, sind teilweise über uns hinaus gewachsen. Vor einiger Zeit noch undenkbar. Aber mittlerweile gehen wir neue Beziehungen ein, auch oder gerade untereinander und miteinander. Mit anderen Worten: Der Nebel lichtet sich. Wir sind bereit den Monstern der Vergangenheit ins Auge zu blicken. Was uns dabei aber bewusst wird, dass wir das nicht alleine können – und auch nicht möchten. Gerade in der Annäherung mit und zu M. Was wir noch wissen und lernen möchten, ist, wie wir uns ‚regulieren‘ können. Natürlich können wir Absprachen treffen, meinetwegen auch ein Zeichen vereinbaren, welches ein Stopp signalisiert. Aber so leicht es in der Theorie auch klingt, mangelt es noch an der Umsetzung. Und eben dafür ist es nötig, denke ich, dass wir ehrlich zu Ihnen sind. Das meinte ich übrigens mit meiner Aussage am Anfang. Sie werden scheinbar nicht müde, an der Fassade zu klettern. Ich möchte Ihnen versichern, dass wir, so wie wir manchmal reagieren, nicht aus Absicht reagieren. Gut, es ist damit sicher etwas beabsichtigt, aber es ist uns oftmals nicht bewusst. Die meisten von uns erleben gerade mit, wie M. sich Ihnen annähert und sind erstaunt über seinen Schritt und können durchaus nachempfinden, wie schwer es für ihn sein muss. Wir möchten ihm den Raum geben und nach Möglichkeit unterstützen. Verstehen Sie aber bitte auch, dass wir auf der anderen Seite auch achtsam sind, wie sich sein etwaiges Verhalten auf uns andere auswirkt. Bisher war sein Auftreten rabiat und endete mit Verletzungen. In vielerlei Hinsicht. Ich fände es günstig, wenn wir, also wir und Sie und natürlich auch er, vor allem auch nach Ressourcen schauen, die ihm helfen könnten. Es wäre schade, wenn er einerseits Fortschritte macht, aber andererseits der Körper oder andere Anteile darunter leiden.“

Was sie sagen wollte, hatte sie nun gesagt und sie ließ erst einmal Luft, das Gesagte wirken zu lassen. Sie sprach nicht nur zum Therapeuten. Die Worte richteten sich ebenso nach innen. Von dort gab es in diesem Moment von D2 Zustimmung. Sie war froh darüber, dass D1 das Wort an alle richtete. Sie konnte schreiben, Dinge festhalten, mit Worten Momente verständlich machen, aber sie war nicht geübt darin, sich direkt mit jemand zu unterhalten. Sie waren bisher wirklich schon ein gutes Team geworden.

Er war immer wieder erstaunt, welche Fortschritte seine Klienten machten. Das Gesagte eben zeugte sogar von Fort’sprung‘.

„Ich bin bereit mit M. einen achtsamen Austausch zu führen. Nur stelle ich mich nicht als ‚Prügelknabe‘ zur Verfügung. Das schrieb ich M. auch bereits schon in einer E-Mail. Ansonsten bin ich natürlich bereit, mit Euch gemeinsam einen geeigneten Weg zu finden, wie Ihr die Vergangenheit als solches – nämlich vergangenes – annehmen könnt. Dabei kommen alte Schrecken ins Bewusstsein, bei denen man nicht weiß, wie man sie aushalten soll. Was Euch passiert ist, ist unvorstellbares Leid. Es ist zum Kotzen, zum Schreien, zum Heulen, aber Ihr habt es überlebt. Und das schöne und wichtige ist, dass Ihr inzwischen erlebt und auch erkennt, dass es schöne Dinge im Leben gibt. Und um noch eins oben drauf zu setzen: Ihr schafft Euch selbst solch schöne Momente. D. mit ihrer kreativen Ader, Eure Beziehung zu O., Freundschaften, Respekt und Achtung an Eurer Arbeitsstelle…Ihr könnt diese Liste bestimmt noch weiterführen. Ich habe den Eindruck, dass Euch oft gar nicht bewusst ist, wie viel Ihr schon erreicht habt…“

„Doch, es wird uns immer öfter bewusst, aber wir trauen uns nicht immer, es uns auch einzugestehen. Es könnte uns ja jemand wieder nehmen.“

„Das kann natürlich passieren und das ein oder andere wird auch passieren, aber es bleibt die Erinnerung. Sie wissen von meiner Aussage des süßen Schmerzes?“

„Ja, davon weiß ich und stimme dem auch zu. Dennoch wird alles auch mit Schmerz, richtig bitterem Schmerz verbunden sein. Aber zumindest gehen wir das Risiko ein, denn etwas verpasst zu haben, würde sicherlich mehr schmerzen. Denke ich jedenfalls in der Theorie.“

„Eure Stabilität, die Ihr mehr und mehr erreicht, ist es übrigens auch, warum scheinbar viel Mist ins Bewusstsein dringt. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder nur so viel aufgeladen bekommt, wie er auch verkraften kann. Und das ist jetzt ein wichtiger Schritt, es dringt mehr in Euer Bewusstsein, Ihr müsst es Euch bewusst machen, um es integrieren zu können. Oder anders gesagt: ablegen. Damit meine ich nicht verdrängen, sondern tatsächlich ad acta legen können.“

„Es klingt schon ziemlich einfach, wie Sie das sagen. Ich weiß aber auch, dass Sie wissen, dass es nicht einfach ist und ich weiß, dass wir es hinbekommen werden.“

„Dessen bin ich mir absolut sicher.“ Sagte er und unterstrich die Aussage mit einem Kopfnicken. Er merkte, dass sie die Worte auf sich wirken ließen und auch er verinnerlichte all das eben Gesagte.

D1 wandte sich in D2s Richtung. Sie formte bereits eine ‚Geschichte‘ aus dem Gespräch, um es für die anderen verständlich zu machen, aber auch um diese wichtigen Worte festzuhalten. Daher merkte D1 zunächst auch nicht, wie sie sich vom Stuhl erhob und in Richtung Balkontür ging. Unterdessen machte sich M. auf den Weg. Er schnürte sein Bündel Mut und wollte es heute wagen. Ihm war sehr flau zumute, aber er riskierte es. Nur auf einem Stuhl konnte und wollte er einfach nicht sitzen. Das machte ihm eine Unterhaltung erst Recht unmöglich. Mit jedem Schritt auf die Balkontür zu, trat er mehr ins Bewusstsein. Es kam ihm sehr gelegen, dass der Therapeut ihm nicht ins Gesicht blicken konnte. Ein Schritt nach dem anderen. Er wollte keinesfalls ins offene Messer laufen.

„Wir spielen nach Deinen Regeln“, sagte er zum Therapeuten, der vom Wechsel zunächst nichts merkte. Dennoch drehte sich dieser leicht zur Seite, um die Körpersprache von ihr zu deuten. Da stand jemand leicht gebeugt, versuchend lässig zu wirken, mit Händen in den Hosentaschen, auf irgendeinen Punkt auf den Balkon blickend. Er erinnerte sich an eine E-Mail von M., in der genau diese Worte standen.

„Hallo M.“, war zunächst einmal alles, was er sagte. Es überraschte ihn nicht, dass M. sich zeigte, war es letztlich nur eine Frage der Zeit. Der letzte E-Mailverkehr zwischen ihnen, zeichnete ab, dass er einen Versuch starten würde.

„Ja.“ M. wusste nicht, was er nun sagen sollte. Er war nicht geübt darin mit jemandem zu reden. Er wusste auch noch immer nicht, ob er es tatsächlich wollte. Ihm schien es, als hinge alles am seidenen Faden. Als hinge er an einem seidenen Faden.

„Ich bin übrigens noch immer der Meinung, dass es von Größe zeugt, was Du mir geschrieben hast.“

„Kann sein.“ Ihm fiel es schwer konzentriert zu bleiben. Da waren die Monster der Vergangenheit, wie der Therapeut es nannte, und sie versuchten sich weiter in M.s Bewusstsein zu drängen. Atmete er noch? Er fühlte nichts. Er fühlte alles. Er fühlte alles und nichts.

„Keine Ahnung was ich sagen soll. Ich kann sowas nicht.“

„Gibt es denn etwas, dass Du sagen möchtest?“

„Nicht wirklich. Kämpfe gerade, dass ich hier stehen kann.“

Er erinnerte sich, dass M. nicht auf Stühlen sitzen kann. So machte es wahrscheinlich auch keinen Sinn, ihm den bequemeren Sessel anzubieten.

„Du kannst Dich auch auf den Boden setzen. Ich habe nur leider kein Kissen, um es weicher zu machen.“

„Meinte nicht, dass ich nicht stehen kann, weil ich nicht stehen kann…ach egal!“

„Wie meintest Du es dann?“

„Ich kämpfe gegen meine Natur. Könnte gerade was kurz und klein schlagen oder gegen die Wand rennen oder Dich anschreien oder sonst was. Aber geht nach Deinen Regeln.“

„Ich denke nicht, dass es Deine Natur ist Dich oder jemand anderen zu verletzen. Du wurdest verletzt. Du bist verletzt und das dürfte es auch sein, weshalb Du sofort um Dich schlägst. Aber ich freue mich, dass Du bereit bist nach neuen Möglichkeiten zu suchen, damit das unerträgliche erträglicher wird.“

„Du hast leicht reden!“

„Nein, das ist bestimmt nicht leicht. Aber denkst Du, es ist leicht so wie es jetzt ist?“

„Alles andere als das. Ich hab keine Ahnung wie. Ich hab von gar nichts eine Ahnung! Ich pack das bestimmt nicht!“

„Willst Du es versuchen?“

„Hab ich die Wahl?“

„Ja, die hast Du und ich denke, Du weißt, wie Du Dich entscheidest. Eigentlich hast Du die Entscheidung schon getroffen.“

„Ich hoffe, es ist die richtige“, antwortete er mehr zu sich selbst und glitt hinab in seine Dunkelheit.

Während sie sich noch zu orientieren versuchte, ging er zum Schreibtisch, um den Terminkalender zu holen. Ihm war sofort aufgefallen, dass ein Wechsel stattfand.

„Ich werde wohl später erfahren, was los war. Jetzt geht gar nichts mehr. Mir brummt der Schädel und ich bin total müde.“

„Wollen wir noch einen Termin ausmachen oder wollen Sie sich melden?“

„Nein, geht schon jetzt noch. In drei Wochen, wieder gleicher Tag und gleiche Uhrzeit?“

„Ja, der Termin ist möglich.“

„Ok. Dann bis in drei Wochen, tschüss.“

Nachdem sie sich verabschiedeten, ging er zum Durchatmen auf den Balkon. Wie oft wurde ihm die Frage nach richtig und falsch schon gestellt? Er hing seinen Gedanken nach…

* Namen gekürzt
** Etwaige Fehler dürfen ignoriert werden


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